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Briefe an die Kinder


Die (Un)-Berechenbarkeit des Menschlichen

Für viele Menschen birgt die Mathematik nicht viel außer unverständlichen Formeln mit zweifelhaftem Nutzen. Zu schnell werden Erinnerungen an den Schulunterricht in diesem oft unbeliebtem Fach wach, wenig Positives ist mit diesem Zweig der Wissenschaft verbunden.

Nichtsdestotrotz birgt die Mathematik überraschende Erkenntnisse über zentrale Fragen, die uns alle angehen, Unabhängig von der Mathematiknote: Die Frage nach dem Kern des Mensch-Seins an sich.

Philosophen, Psychologen, Mediziner und natürlich die Religionen der Welt befassen sich schon lange und noch heute mit der Frage, wie die Existenz des Individuums auf einen Ausgangspunkt zurückzuführen ist, der für uns als Betrachter und gleichzeitig betrachteten sowohl nachvollziehbar (am besten auch nach-spürbar) ist als auch den Gesetzen Darwins und Newtons entsprechen kann.

Für die Mathematiker war diese Frage ebenfalls von Interesse, allerdings eher mit Blick auf die Grundlage der Mathematik, die ja eine ohne Wertung nur die Realität beschreibende Wissenschaft ist.

Ist die Mathematik aus sich selbst heraus in der Lage die Richtigkeit aller ihrer Aussagen zu beschreiben? Oder kann sie das nicht ohne Rückgriff auf die menschliche Intuition, das sichere Gefühl, dass etwas „so ist wie es ist, ohne dass es eines weiteren Beweises bedarf“?

Dies ist der Punkt, an dem Philosophie und Mathematik sich berühren und die gleiche Frage stellen.

Dieser Frage widmete sich auch Kurt Gödel, ein Logiker (sozusagen ein Gedankenhandwerker in der Zunft der Mathematiker) mit großem mathematischen Talent und einem sehr nüchternen, von Ideologie unverstelltem Blick für die Dinge wie sie sind. Sein „Unvollständigkeitssatz“ ist einerseits ein Beispiel für die Schönheit und Eleganz, die in der gnadenlos der reinen Logik verpflichteten Argumentation liegen kann, andererseits zeigt er allen Wissenschaften die Grenzen der Beweisbarkeit auf.

Kurz gefasst – viel zu kurz gefasst, dem Leser sei die Literatur zu Gödels Beweis ans Herz gelegt – sagt Gödel, dass es in formalen, regelbasierten Systemen (wie es z.B. ein Computer ist) Aussagen gibt, die zwar wahr sind, vom System aber nicht bewiesen werden können.

Anders formuliert hat Gödel bewiesen, dass die Mathematik sich nicht vollständig aus sich selbst heraus, also nur unter Verwendung ihrer eigenen, inneren mathematischen oder logischen Regeln beweisen kann. Es verbleibt immer ein letzter Satz, der zwar aus Sicht des Menschlichen Betrachters (also von außerhalb der Mathematik) wahr ist, sich aber innerhalb des Systems nicht beweisen lässt.

Wer nun noch wach ist und nicht durch Erinnerung an lange Schulstunden in spontanen Sekundenschlaf versetzt wurde, dem sei zugerufen: Das ist nicht nur für im Elfenbeinturm sicher weggesperrte Mathematiker, sondern für alle Menschen eine wichtige Erkenntnis!

Warum?

Gödels genialer Beweis zeigt uns, dass kein Computer denkbar ist, der dem menschlichen Gehirn gleichkommen kann. Da der Computer ein regelbasiertes System darstellt, gibt es – unabhängig davon wie komplex und ausgefeilt dieses System gestaltet sein mag – immer einen letzten logisch richtigen Satz, den der Computer nicht berechnen kann. Der Mensch jedoch kann, er hat also immer das letzte Wort.

Also können wir uns zurücklehnen und uns darauf verlassen, dass wir trotz allen Fortschritts in der künstlichen Intelligenz immer die Spitze der Schöpfung bleiben?

Gödels bahnbrechende Erkenntnis bezieht sich auf formale Systeme. Gelingt es, Computer zu bauen bzw. zu programmieren, die ohne ausschließlichen Rückgriff auf das zuvor implementierte Regelwerk, also gleichzeitig außerhalb und innerhalb, sich selbst erkennen und referenzieren können, nun, dann sind es vermutlich sehr menschenähnliche Wesen. Solch eine KI ist denkbar, denn auch ihr wird zwar die letzte Wahrheit im Gödelschen Sinne fehlen müssen, aber „subjektiv“ kann sie auch ohne eindeutigen Rückgriff auf eine letzte Logik leistungsfähiger sein als der Mensch.

Was folgt denn nun aus diesen zugegebenermaßen abstrakten Überlegungen für uns „Normalos“?

Zuallerst zeigt die Blick in die Gedankenwelt und die Arbeiten von Gödel und den vielen anderen Helden der theoretischen Mathematik, Logik und Physik wie wenig die überwältigende Mehrheit der Menschheit in der Lage ist, über unseren Planeten zu wissen. Man kann sich intellektuell sehr klein fühlen, bei dem vergeblichen Versuch Raum-Zeit, Quantenverschränkung, Unschärfe und all die anderen Koonzepte aus der Giftküche der Nobelpreisträger zu verstehen. Gödels Überlegungen sind nur ein Beispiel dafür. Es wird schnell klar, dass ein Leben nicht reicht, um all das zu begreifen.

All das ist nicht weiter schlimm uns sicher keine bahnbrechende Erkenntnis. Wichtig ist etwas anderes: Die immer tiefergehende Quantifizierung der Welt, die mit ihrer Digitalisierung einhergeht, mag den Eindruck erwecken, wir verlören den Zugang zu unserem unrigenen Habitat, eben dieser Welt.

Wie sollen wir selbstbewusst und human unseren Weg in einer Welt gehen, die uns zunehmend den Eindruck gibt, wir hätten aufgrund unserer begrenzten Fähigkeiten in der Matrixrechnung oder Graphentheorie nicht nur nicht die Fähigkeit zum Verstehen sondern nicht einmal mehr das Recht dazu.

Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nicht-seienden, daß sie nicht sind

Protagoras

Die Demokratie als beste unter den schlechten Herrschaftsformen basiert auf der Idee eines mündigen Bürgers, eines verständigen Menschen mit gesundem Verstand. Nur weil eine selbsternannte Elite von Zahlenmenschen nun alles zählt und berechnet, was wir tun, lesen, sehen und vielleicht bald auch denken, darf Ihnen das nicht die Deutungshoheit über unsere Existenz geben.

Gödel ruft diesen Allmachtsbehauptungen der „Quants“ entgegen:
Was auch immer ihr messt und berechnet, der Mensch ist das Maß der Dinge!



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Über MICH

Mein Name ist Philipp, ich bin 1976 geboren und lebe als Unternehmer und Vater dreier Kinder in Ratingen. Als Volkswirt und Wirtschaftsingenieur gehörten eher Zahlen als Texte zu meiner Ausbildung und heute als Geschäftsführer auch zu meinem Arbeitsalltag. Die Liebe zum geschriebenen Wort lässt mich seit Jahrzehnten ein Buch nach dem anderen lesen. Den Wunsch, den ein oder anderen eigenen Gedanken festzuhalten, hat zu diesem Blog geführt.